Von Primzahlen und der Möglichkeit, mit der Heuristik Muster zu erkennen

Diese Woche stolperte ich über einen interessanten Bericht zum Thema „Primzahlen“. Wer in der Schule aufgepasst hat, erinnert sich, dass Primzahlen ausschließlich durch eins und sich selbst teilbar sind. Und wer schon über Primzahlenreihen reflektierte, bemerkte ebenfalls, dass die Abstände zwischen ihnen reichlich willkürlich daherkommen, je größer sie sind.

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Quelle Bild: Spreadshirt.ch

Dank Kristallen ist klar: Primzahlen folgen wohl doch einem Muster

Rund 23,5 Millionen Stellen hat die derzeit höchste berechnete Primzahl, die sogenannte 50. Mersenne-Primzahl. Doch wie war das gleich? Je höher die Zahlen, desto willkürlicher die Abstände? Die Forscher sind sich hier nicht mehr so sicher.

Möglicherweise gibt es laut Wissenschaftlern an der Universität Princeton doch ein Muster. Ausgerechnet mit der Hilfe von Kristallen, wollen sie dies herausgefunden haben. Dafür lenkten sie Röntgenstrahlen auf ein kristallartiges Material, genannt „Quasi-Kristall“, und stellten so die innere Anordnung der Atome dar. Später führten sie Primzahlen am Computer in einer eindimensionalen Atomreihe auf und ließen davon ebenfalls Licht abprallen.

Resultat: Offenbar ähnelt die Anordnung der atomaren Teilchen erstaunlich stark der Sequenz der Primzahlen, wenn man sie über eine große Distanz hinweg auf dem Zahlenstrahl betrachtet. So steht es im Artikel des Journal of Statistical Mechanics der Princetown University.

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Salvatore Torquato, der Autor der Studie, Professor für Naturwissenschaften und Professor für Chemie, sagte bei der Veröffentlichung, man habe zeigen können, dass es offenbar viel mehr Ordnung in den Primzahlen gebe, als jemals zuvor entdeckt worden sei. Primzahlen verhielten sich eben fast wie ein Kristall. Sie fielen in die Klasse der Muster, die man „Hyperuniformität“ nennt.

Mich hat die Veröffentlichung zu den Primzahlen an einen Text erinnert, den ich 2015 veröffentlichte. Diesen habe ich inzwischen überarbeitet und baue ihn in diesen Beitrag hier ein.

„Muster erkennen mit Heuristik“

Im berühmten Triller „Enigma“ beschreibt Robert Harris die verzwickte Situation der britischen Mathematiker im zweiten Weltkrieg, als sie die legendäre Verschlüsselungsmaschine der Deutschen zu knacken versuchten. Zum ersten Mal wurde nicht mehr von Hand, sondern von der Maschine chiffriert. Die Verschlüsselung galt als «unknackbar».

Im Bletchley Park, einem streng bewachten Camp ausserhalb von London, brüteten die Briten monatelang über die im U-Bootkrieg abgefangenen deutschen Funksprüche.

Im Buch liest sich dies dramatisch: «Das Ballett der sinnlosen Buchstaben tanzte vor seinen Augen. Aber sie waren nicht sinnlos. In ihnen war ein Sinn von allergrösster Bedeutung versteckt, sofern er ihn nur entdecken konnte. «Aber wo war das Muster? Wo war das Muster? Wo war das Muster?»

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Quelle: Harris, Robert: Enigma, 1995, S.74 (zitiert nach Weibel, Benedikt: Simplicity – die Kunst, die Komplexität zu reduzieren, 2014, S. 64).

Führender Codeknacker in London war Alan Turing. Dank der Entdeckung eines Musters gelang ihm endlich der Durchbruch:

  1. ENIGMA verschlüsselt grundsätzlich keinen Buchstaben in sich selbst.
  2. Schlüsselwörter wie «Wind» oder «Nebel» mussten zu Beginn erraten werden.

Dank der Arbeit von ihm und seinem Team erzielten die alliierten Streitkräfte den entscheidenden Durchbruch.

Mit Heuristik komplexe Rätsel lösen

Heuristik heisst das Verfahren, das hilft, adäquate, wenn auch oft noch unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Dabei wird vielfach die Variante gewählt, anstelle eines schwierigen Problems vorerst ein einfacheres zu setzen.

Dieses Vorgehen ist in der Mathematik verbreitet. Der berühmte französische Mathematiker Henri Poincaré nahm an einem von König Oskar II. ausgerufenen Mathematikwettbewerb über die seit Newton ungelöste Frage der Stabilität des Sonnensystems teil. Doch anders als seine Mitbewerber reduzierte Poincaré die Komplexität: Statt auf das ganze Sonnensystem konzentrierte er sich auf ein Modell mit nur zwei Planeten. Und fand so zu einer Lösung.

Quelle: Villani, Cédric: Das Lebendige Theorem, 2013, S. 224, zitiert nach Weibel, Benedikt: Simplicity – die Kunst die Komplexität zu reduzieren, 2014, S. 37

Lob der Fähigkeit, Muster zu erkennen

Mit Blick auf diese Forschungsarbeiten zu den Primzahlen können wir sagen: Mustererkennung ist nicht bloss ein heuristisches Verfahren, um mit einer zunehmend komplexeren Welt umgehen zu können. Mustererkennung ist der fundamentale Baustein eines Erkenntnisprozesses. Schon die ersten Philosophen setzten sich mit der Abstraktion auseinander. Das lateinische «abstrahere» übersetzen wir bekanntlich mit abziehen, entfernen oder trennen. Erst durch das Weglassen von Einzelheiten, vermögen wir das Allgemeine zu erkennen.

Douglas Hofstadter, Autor des berühmten Buchs «Gödel, Escher, Bach» (1979), definierte Intelligenz als Eigenschaft, aus einer Tätigkeit herauszuspringen und beurteilen zu können, was getan wurde. In der Erwachsenenbildung sprechen wir in einem solchen Fall von der Fähigkeit zur Metareflexion. Im besten Fall wird dabei stets nach Mustern gesucht.

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Wenn wir heute in die Richtung der USA schauen und augenreibend das Treiben von No. 45 beobachten, oder auch die sich in Ungarn und aktuell in Brasiliens Wahlkampf politisch abzeichnenden autoritären Muster sehen, erinnern sich vielleicht einige Leserinnen und Leser an Guillermo Cabrera Infante, den 2005 im Exil verstorbenen Schriftsteller aus Kuba. In „Ansicht der Tropen im Morgengrauen“, schrieb er:

«Der General fragte, wie spät es sei, und ein Adjutant kam schnell herbei und flüsterte ihm zu: So spät, wie Sie wünschen, Herr Präsident».

Quelle: Cabrera Infante, Guillermo: Der General fragte, aus: Ansicht der Tropen im Morgengrauen, 1992

Didaktische Reduktion in der Geographiestunde

Als Beispiel kann uns hier die Situation im Fach «Erdkunde» dienen. Hier ist die Verlockung, vollständig, statt gründlich zu lehren, besonders gross. Denn das Fach bietet eine Vielfalt an Faktenwissen:

  • Von den zehn grössten Süsswasserseen bis zu den fünf bevölkerungsreichsten Ländern der Erde.
  • Von der vielerorts bedrohten Bodenfruchtbarkeit bis zum Phänomen «Land Grabbing», bei dem reiche Investoren und Hedge-Fonds Ackerland, z.B. in Afrika, für die agroindustrielle Ausbeutung aufkaufen und bis zur vollständigen Zerstörung nutzen.

Wenn wir didaktisch reduziert vorgehen, fragen wir uns beispielsweise:

  1. Wie kann ich Erdkunde statt vollständig besser gründlich lehren?
  2. Was würden ich, wenn ich mir eine bestimmte Gruppe von Lernende vorstelle, auswählen, was würde ich bewusst weglassen?
  3. Wie gelingt es mir, die Lernenden im Fach Erdkunde zum Erkennen von «Mustern» zu führen?

Mit einer Metareflexion ein Thema verdichten und Zusammenhänge erkennen

Angenommen Sie leiten als Lehrperson für „Erdkunde“ in einer Oberstufenklasse eine Metareflexion, im Anschluss an die Bearbeitung des komplexen Themas «Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion».

Nehmen wir weiter an, Sie lassen die Klasse in Kleingruppen nach der Methode des «Problem basierten Lernens» arbeiten. In einem ersten Schritt werden das erlernte Wissen und die Lösungsansätze der einzelnen Gruppen zusammengetragen und gemeinsam kritisch reflektiert.

Die Notizen, die die einzelnen Teilnehmenden in den vorangegangenen Phasen aufgezeichnet haben, können jetzt genutzt werden. In der Regel braucht es Sie als Lehrperson, der diese Phase moderiert. Dabei achten Sie darauf, dass die ursprünglichen Beschreibungen des Problems aus der Beobachtungsphase (Phasen 1 und 2) nun sowohl auf die Darstellung als auch auf den Lösungsansatz bezogen wird.

Untersuchter Teil Reflexion Metareflexion
Informationsgehalt der Präsentation Welche Informationen gehören unbedingt zum Thema, was ist überflüssig? Nach welchen Kriterien legen wir fest, was als wichtig oder unwichtig gilt?
Art der Darstellung Wie sind die Informationen dargestellt worden? War die Art der Darstellung für das Thema geeignet, hat sie das Verständnis gefördert oder eher verstellt?
Brauchbarkeit der Information zur Problemlösung Haben die Informationen geholfen, eine Entscheidung über die Lösung des Problems herbeizuführen? Was sind die Auslassungen im Blick auf das Thema?
Untersuchter Teil Reflexion Metareflexion
Qualität der Lösung Ist die Lösung im Blick auf die zur Verfügung stehenden Informationen als gelungen oder sinnvoll zu bezeichnen? Welchen Interessen und Motiven entspricht die Lösung und weshalb wird sie als gelungen und sinnvoll (oder misslungen und sinnlos) eingeschätzt?
Zufriedenheit mit der Lösung Wie zufrieden ist jeder einzelne mit der entwickelten Lösung? Wo gibt es Unterschiede in unserer Gruppe und wie begründen sie sich? Wenn es keine Unterschiede bei uns gibt, wer könnte dann anderer Meinung sein?

Mehrstufige Metareflexion

Da es sich beim Thema «Klimawandel» um ein komplexes Thema handelt, das nicht durch feststehende naturwissenschaftliche Gesetze oder technologische Vorschriften geregelt ist, kann weder eine vollständige Ansammlung der Informationen noch eine vollkommene Lösung erwartet werden.

Nach meiner Erfahrung eignet sich darum eine mehrstufige Reflexion auf dem Weg zu Metareflexion.

Bei dieser Bearbeitungsweise kommt es vielmehr auf die Variabilität von Informationen und Lösungen im Hinblick auf gewählte Kontexte und Anwendungen an. Das Einbeziehen der Meta-Perspektive hilft, gegenüber Lösungen und Informationen nicht naiv zu sein. Es schütz auch davor, oberflächliches reproduktives Beschreiben und Lernen, wie wir es oft in traditionellen Lehrsituationen beobachten, zu vermeiden.

Falls es die Aufgabe der jeweiligen Gruppen ist, ein Portfolio oder eine Dokumentensammlung zu erstellen, empfehle ich, hier bereits zu Beginn der Aufgabe kurz anzusprechen, welches Material in das Portfolio übernommen werden kann und wo es noch Anpassungen geben muss.

Zum Abschluss dieser Phase könnte eine kurze Reflexion über die Methode des Metalernens stattfinden. So erhalten die Teilnehmenden wichtige Anregungen, die sie bei erneuter Anwendung dieser Methode einsetzen können.

Mögliche Themen könnten sein:

  • Was hat Ihnen an der Methode „Metalernen“ gefallen, was nicht?
  • Was könnte man Ihrer Meinung nach noch verbessern?
  • Wie hat das Arbeiten in Ihrer Gruppe funktioniert?
  • Würden Sie diese Methode weiterempfehlen?

Zum Abschluss dieses Beitrages passt eine Anmerkung des französischen Philosophen und Schriftstellers André Comte-Sponville. In seinen Büchern, unter anderem im Buch «Ermutigung zum unzeitgemässen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte» (1996) bringt er Intelligenz und Komplexitätsreduktion zusammen. Kritisch hält er fest:

«Intelligenz ist die Kunst, das Komplizierte auf das Einfache zu reduzieren, nicht umgekehrt.»

Was sind Ihre Erfahrungen mit dem Thema Heuristik? Wie gelingt es Ihnen in der Erwachsenenbildung die Studierenden und Teilnehmenden mit Metareflexion zur Bearbeitung und „Vereinfachung“ von Komplexität anzuleiten?

 

 

 

2 Gedanken zu „Von Primzahlen und der Möglichkeit, mit der Heuristik Muster zu erkennen

  1. Lieber Yvo,

    spitze, wie du Gedanken verbindest und Themen verknüpfst. Auch die Zitate sind gut ausgewählt und die Literaturhinweise hilfreich. Ich erinnere mich an deinen Lieblingssatz in unserer Weiterbildung: „Wir gehen jetzt gleich auf die Meta-Ebene und schauen, was wir gemacht haben!“

    Diese Überlegungen und Debatten haben mich weitergebracht.

    Hast du den farbigen Papp-Helikopter noch?

    Liebe Grüsse aus Lausanne,
    Frank G.

  2. Lieber Frank,

    danke, ja, den Helikopter gibt’s noch. Und die Meta-Ebene, die ist mir wichtig. Bildungsfachleute müssen fähig sein, ihr Handeln in einen Zusammenhang zu stellen und kritisch zu reflektieren. Ich finde, das macht den Reiz der Lehre und des Lernens aus: andere Meinungen und Sichtweisen hören, die eigene Persönlichkeit entwickeln.

    Schöne Grüsse ins waldreiche Land und gib mir ein Funkzeichen, wenn du in meiner Nähe unterwegs bist.
    Yvo

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