No. 45 … or: “Truth is what your contemporaries let you get away with.”

In diesem Blog-Artikel geht es zur Abwechslung nicht direkt um „Didaktische Reduktion“, sondern manipulativen Sprachgebrauch. Das Zitat im Titel stammt vom US-amerikanischen Philosophen und Komparatisten Richard M. Rorty. Dieser gilt als Vertreter des Neo-Pragmatismus, der Philosophie ihre ursprüngliche lebenspraktische Bedeutung zurückgeben wollte, um so Orientierung und menschlichen Fortschritt zu fördern.

Weil ich mich als Übersetzer und Dolmetscher für Sprache und wie Menschen miteinander reden interessiere, aber auch weil ich es im Original besser fassen kann, wechselt mein Text vereinzelt von Deutsch auf Englisch.

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Anlass für den Beitrag lieferte mir die Einsetzung und das anschliessend über viele Kanäle rauschende Spektakel rund um den neuen President elect Donald J. Trump. Dessen Namen ich hier und im Folgenden reduktiv vermeiden will und ihn darum schlicht und einfach No. 45 nennen werde.

Würden dies möglichst viele Menschen und insbesondere die von ihm gescholtenen Lohnschreiber der „Fake-News“ tun, so meine Vermutung, könnte dies die grösste Strafe für seine offensichtlich narzisstisch gestörte Persönlichkeit bedeuten.

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Bereits früh erreichten uns vom späteren No. 45 viele verdrehte oder manipulative Botschaften:

Beispielsweise nutzte er während des Wahlkampfes nie einfach die Namen seiner Opponenten, wie z.B. “Ted Cruz,” “Marco Rubio,” or “Hillary Clinton”. Bei No. 45 waren dies stets “Lyin’ Ted,” (der lügnerische Ted), “Little Marco” und “Crooked Hillary” (die korrupte Hillary). Diese endlos wiederholten Beiwörter fassten Extra-Informationen in kleine, leicht memorisierbare Wortfetzen.

Dann auch die bis heute andauernde Selbstanpreisung und Wiederholung:

“I’m a leader. I’m a leader. I’ve always been a leader. I’ve never had any problem leading people. If I say do it, they’re going to do it. That’s what leadership is all about.”

In den letzten Tagen und Wochen überstürzten sich die Ereignisse und ich will hier nicht alle verrückten Aussagen und Tweets kommentieren, die anderswo bereits erwähnt wurden. Dafür an einen Gedanken von Peter Kann, langjähriger Redaktor und späterer Herausgeber des Wall Street Journals, erinnern:

“… facts are facts; that they are ascertainable through honest, open-minded and diligent reporting; that truth is attainable by laying fact upon fact, much like the construction of a cathedral; and that truth is not merely in the eye of the beholder.”

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Lob den Late Night Comedy-Shows …

In den ersten Wochen suchte ich wie viele meiner Freunde in den USA Trost in den populären Late Night Comedy-Shows von Trevor Noah, Stephen Colbert und Seth Meyers. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob dieser parodierende und ironisierende Zugang der richtige ist, um dem Phänomen No. 45 zu begegnen.

Nun gut, lustig fand ich die Idee des Teams von Trevor Noah, einen elektronischen Transformer einzurichten, der die wirren Tweeds des erwachsenen No. 45 in bunte und harmlose Kritzelbotschaften eines ungefähr 7-jährigen Buben verwandelt:

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So ergaben die Aussagen auf einen ersten Blick zumindest halbwegs einen Sinn: der Schrei eines übergewichtigen und 70-jährigen Kindes, welches nie aufrichtige Wärme oder Liebe erfahren hatte:

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Sehr gelungen schien mir auch den Sketch von Melissa McCarthy in der Saturday Night Live Show SNL, welcher den Pressesprecher  von No. 45, Sean Spicer, auf’s Korn nahm:

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Interessante Überlegung zum Duktus und Sprachstil von No. 45 fand ich bei jüngeren Autoren, wie zum Beispiel Evan Puschak, der sich mit den Twitter-Botschaften und dem darin verwendeten Vokabular und Satzbau beschäftigte.

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Doch bald realisierte ich: ähnlich wie sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Deutschland 1945, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, um eine neue, vom Hass-Jargon befreite klare und einfache Sprache bemühten, geht es heute und insbesondere in der Nach-No. 45-Zeit darum, uns von dieser hässlichen, hetzerischen und manipulativen Sprache, die in den USA und auch bei uns um sich greift, zu distanzieren.

Interessant ist dazu die Analyse und das Gespräch mit dem Linguisten George Lakoff, der für folgende Graphik verantwortlich zeichnet:

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Eine Sprache des Widerstandes begründen

Und so wie die deutschen Intellektuellen damals realisierten, reicht es nicht, einige Verantwortungsträger vor Gericht zu stellen und die alten Strassenschilder wieder anzuschrauben: es braucht Menschen, die sich der Bedeutung einer achtsamen und präzisen Sprache, die befreiende und transformierende Potentiale freisetzt, bewusst zu werden.

An den Wittgenstein anknüpfend, für den es außerhalb der Sprache keine erkennbare Welt gibt, schrieb der zu diesem Gedanken eingangs zitierte Rorty:

„Da Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.“[38]

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Rorty stellte die These auf, dass Sprache Kontingent und eine Geschichte von Metaphern sei. In seinem Aufsatz „Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989) erklärte er, dass Metaphern einen Überraschungseffekt ausüben können, vergleichbar mit dem Schneiden einer Grimasse in einem Gespräch.

Im Unterschied zur traditionellen Ironiekonzeption, in der Ironie als Mittel angesehen wird, der Wahrheit näher zu kommen, hat die Ironikerin bei Rorty (er benutzt bewusst die weibliche Form, um sich vom traditionellen Verständnis der Ironie abzusetzen) Zweifel und Distanz gegenüber ihrem bisherigen Vokabular.

Ironikerinnen, so Rorty, sind bestrebt, ihr Vokabular immer wieder zu erneuern und zu hinterfragen. Im privaten Bereich dient dies der Erschaffung des Selbst und fördert die Autonomie. Freiheit ist für Rorty darum die Einsicht in die Kontingenz. In die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen.

George Orwell sagte einmal: “To see what is in front of one’s nose needs a constant struggle.”

Wir alle haben die Verpflichtung hinzuschauen, was sich vor unserer Nase abspielt. Egal ob wir als Journalisten, Blogschreiber, Übersetzende oder in einem lehrenden Beruf unterwegs sind. Besonders aber, wenn wir uns als „Wissensarbeitende“ verstehen. Schliesslich geht es um intellektuelle Redlichkeit und wie wir als Gesellschaft eine Form finden, bei aller Differenz, miteinander konstruktiv umzugehen.

 

 

6 Gedanken zu „No. 45 … or: “Truth is what your contemporaries let you get away with.”

  1. Hi Yvo,

    thanks for this posting. Funny to read, how no. 45 and our late-nite shows are perceived over there.
    Actually I did find out through careful research when America was great. It must have been in the the year 1491, the time before the Brits came over and began pillaging, enslaving, stealing and destroying the natural world. Sad enough, they never stop until it’s all gone, including the planet itself.

    Tom

    • Hi Tom,

      did you read the latest posting on Guardian? Have a look: http://bit.ly/2iY6e3F

      No. 45 makes ‚Pocahontas‘ joke at ceremony honoring Navajo veterans.
      Addressing Native American veterans of the second world war, the president repeated a favorite racial taunt about Democratic senator Elizabeth Warren.

      Trump’s remarks took place under a portrait of Andrew Jackson, notorious for forced removals of Indians. It’s important to remember, the founder of the Democratic Party and later President, signed in 1830 the „Indian Removal Act“.
      The act allowed the federal government to remove Native Americans from their land. Among the results was the „Trail of Tears,“ when roughly 17,000 Cherokees were forced out of Georgia at gun point and moved to present-day Oklahoma. Thousands of Cherokees died on the journey and Wikipedia writes: „The relocation process dispossessed the Indians and resulted in widespread death and sickness“.

      Elisabeth Warren told MSNBC shortly after Trump’s remark:
      „It is deeply unfortunate that the President of the United States cannot even make it through a ceremony honoring these heroes without having to throw out a racial slur. Donald Trump does this over and over thinking somehow he is going to shut me up with it. It hasn’t worked out in the past, it isn’t going to work out in the future“.

      I’m hoping the code talkers give him an honorary name. Laughing Stock, for instance. Crying Shame would work, too.

      Best wishes,
      Yvo

  2. Hallo Herr Wüest,

    danke für den humorgestützten Beitrag. Ihnen gelingt es wirklich, auf den Punkt zu kommen!
    Ich muss hier einen Moment ausführlicher werden, um meine Sicht (ich habe länger in den Staaten gelebt und gearbeitet) darzulegen:

    Bei den USA handelt es sich im Kern um einen maroden und kranken Staat. Anders ausgedrückt:
    Ein System, welches sich hunderttausende obdachlose Kinder und drogenabhängige Bürger „leistet“, proportional, auf die Bevölkerungszahl gerechnet, über eine der grössten Gefangenenpopulationen verfügt und in dem schwarze Bürger überproportional häufig für die minimale Vergehen einsperrt, ist nicht „gesund“.

    Was wir nicht vergessen dürfen: No. 45 ist als Resultat eines Auswahlverfahrens der Republikanischen Partei und später durch die Entscheidung -nicht der Mehrheit, doch- vieler Wähler an die Macht gekommen.

    Trumps umfassend dokumentierte Lügen, seine permanenten Aggressionen gegenüber Kritikern, sein penetranter Sexismus und Rassismus, für viele seiner Anhänger ist das absolut OK, weil sie selber so denken. Viele grosse Unternehmen, einflussreiche Kreise, sehen in ihm die Möglichkeit, ihre Agenda (Steuergeschenke für Reiche) durchsetzen zu können.

    Das herbeigewünschte Impeachment-Verfahren ist unrealistisch und lenkt von den oben geschilderten Fakten ab. So lange die Republikaner es wollen, wird Trump der Präsident dieser kranken Gesellschaft bleiben. Wer nach ihm kommt, wird viel aufzuräumen haben …

    Ihnen alles Gute und viel Erfolg mit Ihrem neuen Fachbuch.

    Katja U. aus Köln

    • Danke für Ihren Beitrag und Ihre Überlegungen zur Situation der Gefangenen in den USA, Frau U.

      In 2014 und 2015 recherchierte ich für ein neues Buchprojekt vor Ort, zuerst in SF und später in NY.
      Da ich im Anschluss an diese Reisen andere Aufgaben priorisierte, stellte ich dieses literarische Unternehmen etwas zurück.
      Nehmen Sie mit mir Kontakt auf, wenn Sie hier über Hinweise und Quellen zum „Verwaltungs-System“ dieser erschreckend grossen Zahl von Strafgefangenen in den USA verfügen. Besonders interessiert bin ich an der Situation in den 1930-er Jahren, da meine Geschichte in diesem Zeitabschnitt, rund um die „Depression“ spielt.

      Zu No. 45: Vermutlich können wir es noch erleben, dass auch Mainstream-Medien das „possibly“ vor „possibly mentally ill“ definitiv streichen.

      Ihnen alles Gute, Ihr
      Yvo Wüest

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