Eigentlich wissen wir es längst: Wenn wir eine Geschichte hören oder lesen, führen wir verschiedene Geschehnisse dieser Geschichte „geistig“ aus. Oft sogar stellen wir uns die Handlung bildlich und in allen Farben vor.
Diese Tage war ich, wie viele Menschen, emotional berührt von den schrecklichen Ereignissen vom 7.1.15 in Paris. Underprivilegierte, verwirrte und emotional verhärtete Menschen verbreiteten Angst und Schrecken.
Um mich etwas abzulenken und zu zerstreuen, las ich einen Artikel in der angesehen Zeitschrift „Psychological Science“. Dabei handelt es sich um eine „peer-reviewed“ Monatsschrift, die zu den verlässlichsten Quellen für Erkenntnisse aus der Neuropsychologie in den USA zählt.
In diesem Artikel, der bereits 2009 erschienen war und den Titel “Reading Stories Activates Neural Representations of Visual and Motor Experiences” trägt, halten die Forscher fest: Was in einer Geschichte passiert, „geschieht“ auch im Gehirn. Will heissen: Wir leben dort bis zu einem gewissen Grad die Geschichte ein zweites Mal aus.
Das Experiment mit den 28 Rechtshändern in St. Louis
Die Neuropsychologen an der Washington Universität in St. Louis setzten für verschiedene Experimente mit 28 Muttersprachlern leistungsfähige 3-T Siemens Visions Scanner (MRI) ein. Die Spielanlage beinhaltete, dass es sich um Rechtshändler handeln musste, die langsam und Satz für Satz eine Geschichte lesen mussten, bei der gleichzeitig die Gehirnströme gemessen wurden. Dies mit der Absicht herauszufinden, ob entsprechende Regionen durch einzelnen Abschnitte der Geschichte aktiviert wurden und mit einer stärkeren Durchblutung reagierten.
Ergebnis: Die Forscher fanden heraus, dass die Testpersonen in diesen Gehirnregionen besondere Aktivitäten zeigten, die auch im normalen Leben für die in der Geschichte geschilderten Vorgänge zuständig sind. Unterschiedliche Gehirnregionen reagierten auf unterschiedliche „Geschichts-Impulse“. Wenn der „Held“ der Geschichte sich bewegte, regte sich auch die Gehirnregion, die für Bewegung und Fortkommen zuständig ist. Wenn sich der „Held“ etwas vorstellte, zeigten sich Aktivitäten in jenen Regionen, die für Denkprozesse wichtig sind.
Die Rolle des Präfrontalen Kortex
Besonders spannend finde ich folgendene Erkenntnis: Wenn der Hauptdarsteller sein Ziel ändert, zeigten sich stärkere Reaktionen im Präfrontalen Kortex. Dieser Teil des menschlichen Gehirns wird oft mit der Fähigkeit, Ziele zu setzen und diese verfolgen zu können, in Verbindung gebracht. Typischerweise zeigen Menschen, die eine Schädigung des Präfrontalen Kortext erlitten haben, Schwierigkeiten darin, sich einfache Tagesziele zu setzen und diese erfolgreich zu realisieren. Ebenfalls beobachtete ich bei der Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Menschen, bei denen dieser Teil der Gehirnregion noch nicht vollständig ausgewachsen ist, exakt bei dieser Aufgabe (sich Ziele setzen und die Umsetzung der Ziele unverzüglich anzupacken) besondere Herausforderungen.
Wer eine Geschichte hört oder liest, verbindet in der Regel sein Weltwissen und seine Erfahrungen mit dem Stoff der neuen Geschichte. Die Forschungsergebnisse sagen dazu: Um die Geschichte „verstehen“ zu können, spielt das Gehirn die einzelnen Aspekte nochmals durch. Und Veränderungen in der Geschichte selber, spiegeln sich in veränderten Reaktionen in unterschiedlichen Hirnregionen.
Worauf Ausbildende und Lehrpersonen achten sollten
Storytelling hilft Lernenden, einen Sachverhalt geistig nochmals durchzuspielen. Wenn wir statt auf Begriffe, Zahlen und Fakten vermehrt auf Geschichten setzen, vereinfachen wir ihnen den Lernprozess. Durch diese „zweite Aufführung“ im Gehirn erstellen die Studierenden zusätzliche Verknüpfungen, verbreiten bestehende und speichern so Wissenselemente besser im Gehirn ab.
Meine persönliche Erkenntnis aus der Lektüre ist folgende: Eigentlich ist unser Gehirn ein lebendiges Datenverarbeitungssystem mit einer besonders effizienten „Software“, die umfangreiche Informationseinheiten gerne in Geschichten verpackt.
Und genau so wie eine gute Softwareentwicklerin gelobt wird, wenn ihr Programm…
- grosse Datenmengen rasch verarbeitet
- Informationen verdichtet
- möglichst wenig Energie verbraucht
- sichere Orientierung erlaubt
- Fehler zulässt und trotzdem stabil bleibt
- bei Teilausfällen trotzdem funktionsfähig bleibt
- Mehrdeutigkeiten zulässt
verfügen wir Menschen mit dem Gehirn über dynamisches System, welches in Millionen Jahren gelernt hat, Informationen zu empfangen und weiterzugeben, ohne bei überraschenden Varianten gleich auszufallen.
Die höchste „Performanz“ zeigt sich aus meiner Sicht z.B. in der Fähigkeit, Ironie zu verstehen. Dazu ein Beispiel: Angenommen einem Kind passiert bei einem Familienausflug ein Missgeschick: Beim zweiten Auswurf bleibt ihm die Angelschnur der Fischerrute am Hut eines (noch) unbekannten anderen Hobby-Fischers hängen…
Stellen wir uns vor, dass dieser Vater, ohne dass das Kind sein Gesicht sieht, laut ausruft:
„Das hast du gut gemacht!“
Wenn das Kind in Sekundenbruchteilen in den verschiedensten Gehirnarealen nach Kurzgeschichten sucht, in denen die gehörten Zeichen von Bedeutung sind, wird es die Bedeung der väterlichen Aussage vermutlich verstehen. Wenn jedoch in seinem Repertoire kein Beispiel für Geschichten abrufbar ist, in denen eine Erwachsene Person nicht das meinte, was sie sagte, wird das Kind die Ironie nicht erfassen können.
Nur das, was wiederholt vorkam oder tiefe emotionale Spuren hinterlassen hatte, wurde im kindlichen Gehirn abgespeichert. Intuitiv wissen vermutlich alle Kinder dieser Welt, dass sie wohl über ein geniales „Starterkit“ verfügen, aber dieses Gehirn Stück für Stück mit weiteren Informationspaketen ergänzen müssen. Damit sie als Individuen in dieser Welt bestehen und sich reproduzieren können. Aber auch an veränderte Verhältnisse anpassen und dadurch überleben. Vermutlich ist dies der Grund, warum Kinder fragen:
- Wie funktioniert die Welt?
- Warum haben die Attentäter in Paris dies getan?
- Wer bin ich ?
- Wie muss ich mit anderen Menschen umgehen?
- Wer beschützt mich, wenn ich bedroht werde?
Nur Antworten aus Geschichten sind klar und gleichzeitig auch undeutlich genug, um Varianten zuzulassen, sofern dies notwendig sein sollte. Storytelling…was uns als selbstverständlich erscheinen mag, ist vermutlich die genialste Erfindung der Evolution.
Quelle:
Speer, N. K., Reynolds, J. R., Swallow, K. M., & Zacks, J. M. (2009). Reading Stories Activates Neural Representations of Visual and Motor Experiences.Psychological Science, 20(8), 989–999. doi:10.1111/j.1467-9280.2009.02397.x