Im Februar 2015 starb der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) Marshall B. Rosenberg im Alter von 80 Jahren. In diesem Beitrag fasse ich seinen Ansatz zusammen und würdige sein Schaffen.
Der Mann mit seinen Puppen
In den 90-er Jahren nahm ich an einer von Rosenberg geleiteten Weiterbildung teil und lernte ihn und seine berühmten Handpuppen, den Wolf und die Giraffe, kennen. In Erinnerung geblieben ist mir, neben seinen eindrücklichen Augenbrauen… diese beeindruckende Ruhe und Gelassenheit, mit der er unseren Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit dem GFK-Konzept begegnete.
„Wenn Sie es schaffen, eine reine Beobachtung wiederzugeben, tanzt die Giraffe. Steckt in Ihrem Satz eine Bewertung, heult nur ihr Wolf“.
Rasch verstanden wir: Die beiden Tiere stehen symbolisch für grundsätzlich verschiedenartige Kommunikationsstile. Der Wolf für den aggressiven, verletzenden Gesprächsstil. Die Giraffe, das Landtier mit dem grössten Herzen, für einen einfühlsamen und achtsamen Kommunikationsstil.
Kindheit und Jugend in Detroit
In einer kurzen Selbstvorstellung erzählte Rosenberg von persönlichen, bedrückenden Gewalterfahrungen aus seiner Kindheit und Jugendzeit. 1934 in Ohio, USA, geboren, zog er als Neunjähriger mit seinen Eltern nach Detroit. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er wiederholt von Mitschülern verprügelt. Er erlebte Ausschreitungen und Übergriffe von Sicherheitskräften gegen armutsbetroffene Menschen. Diese dramatischen Erfahrungen prägten seine Wahrnehmung. Er deutete sie als Einladung, sich intensiv mit menschlichem Konfliktverhalten zu beschäftigten. Er studierte klinische Psychologie. Er erforschte die Rolle der Sprache und untersuchte sogar die Wirkung einzelner Wörter in Konflikten.
Inspiration bei Rogers und Gandhi
Vieles, was ich bei Rosenberg hörte und später von ihm las, findet sich bereits bei seinem Lehrer und Vorbild Carl Rogers, Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie. Im Unterschied zu Rogers interessierte sich Rosenberg stärker für Gruppen. Er fragte sich, wie Menschen ihre Fähigkeiten entwickeln können, Differenzen friedlich beizulegen. 1983 erscheint die erste Ausgabe von „A Model for Nonviolent Communication“, das wir damals im Training nutzten. Darin beschreibt er die vier grundlegenden Schritte der GFK und bezieht sich auf Gandhis Überlegungen zur Gewaltlosigkeit.
Er selbst sagte wiederholt: „alles, was in die GFK integriert wurde, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Es geht also darum, uns an etwas zu erinnern, was wir bereits kennen – nämlich daran, wie unsere zwischenmenschliche Kommunikation ursprünglich gedacht war.“
Die vier Schritte in Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation GFK
- Beobachtung schildern (ohne Bewertung und Interpretation)
- Meine Gefühle mitteilen (wie geht es mir dabei?)
- Bedürfnisse formulieren (was kommt bisher zu kurz, was brauche ich?)
- Eine Bitte äussern (immer nur als Wunsch, nie als Forderung formuliert!)
Rosenberg war überzeugt: Wenn Menschen erleben, dass sie in ihrer eigenen Motivation ernst genommen werden, sind sie eher bereit, ihr eigenes Verhalten zu modifizieren. Wenn sich Konfliktparteien auf einen solchen Kommunikationsstil einigen können, gelingt es ihnen trotz unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen in wertschätzendem Kontakt zu bleiben.
Eine Idee geht um die Welt
1984 gründetet Rosenberg in Albuquerque, New Mexiko, das Center for Nonviolent Communication (CNVC). In den folgenden Jahren startete er eine intensive Reisetätigkeit, die ihn in über 60 Länder führte, darunter Palästina, Afghanistan und Ruanda. Rosenberg arbeitete mit höchst unterschiedlichen Menschen und vermittelte zwischen verfeindeten Volksgruppen. So haben 1994 serbische Pädagoginnen und Psychologen, mit Unterstützung der UNICEF, ein mehrbändiges Werk zum Erlernen gewaltfreier Kommunikation für Kindergärten und Schulen entwickelt.
Rosenbergs Ziele
-Auflösung alter Muster wie Verteidigung, Angriff oder Rückzug
– Widerstand, Abwehr und gewalttätige Reaktionen reduzieren
– Differenzierung und Klärung von Beobachtung, Gefühl und Bedürfnis
-Förderung der Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Empathie
-Aufmerksamkeit in eine Richtung lenken, die es realistischer macht, einen Teil unserer Wünsche zu erfüllen
Zitat Rosenberg: „What I want in my life is compassion, a flow between myself and others based on a mutual giving from the heart.“ (Quelle: Nonviolent Communication: A Language of Life, 2003)
Wirkung im deutschsprachigen Raum
Besonders fruchtbar zeigten sich seine Vorträge und Trainings im deutschsprachigen Raum. Bis heute hat sich sein seit 2001 in 13. Auflagen erschienenes Buch „Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens“ bereits 320’000 verkauft. Im Jahr 2014 behaupteten in einer Umfrage der Zeitschrift „managerSeminare“ 41% der befragten Trainer und Ausbildenden, das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg zu nutzen. Damit gehört der Ansatz der GFK vermutlich zu einem der beliebtesten Kommunikationsmodelle im deutschsprachigen Raum.
Das Vermächtnis von Rosenberg
Zu Beginn seiner Arbeit erweitert Rosenberg das Empathie-Konzept von Carl Rogers um drei neue Elemente. Er betrachtet nicht mehr nur den einzelnen Menschen, sondern setzt beim Gesamtsystem an. Er bleibt auch nicht bei den Emotionen „hängen“, sondern will über die dahinter liegenden Bedürfnisse sprechen. Schliesslich formuliert er das leicht zu erinnerndes Vierschritt-Raster, mit der Menschen besser miteinander über ihre Bedürfnisse verhandeln können.
In der modernen Arbeitswelt gelten feudale Strukturen als überholt. Bedürfnisorientiertes Verhandeln zeichnet kompetente Führungskräfte und funktionierende Teams aus. Rosenberg war für diese Entwicklung inhaltlich und didaktisch ein bedeutender Wegbereiter.
Konkrete Anwendung
Wer als Trainer oder in der Ausbildung arbeitet, kennt die Herausforderung, die „schwierige“ Teilnehmende bieten können. Rosenbergs Konzept hilft der Seminarleitung, die Motive hinter diesem „störenden“ Verhalten zu erkennen und angemessener zu reagieren. Denn manchmal laufen wir in der Lehrsituation Gefahr, eine Studierende oder einen Teilnehmer voreilig als arrogant, nervend und…störend abzustempeln. Der GFK-Ansatz sagt hier klar: Das wahrgenommene Verhalten mag der Auslöser für unsere Gefühle sein. Die tatsächliche Ursache für unsere negativen Gefühle liegt jedoch einzig bei unserer oft unbedachten und vorschnellen Bewertung.
Den hingeworfenen Knochen…nicht packen!
In meiner Weiterbildung bei Rosenberg hatte ich ein Aha-Erlebnis: Wirft mir jemand in einer Auseinandersetzung einen Knochen hin, muss ich ihn nicht packen. Schliesslich bin ich kein Hund. So kann ich z.B. auf einen Vorwurf „Du bist geistig abwesend und bringst dich in dieser Sitzung überhaupt nicht ein!“ gelassen reagieren. Meine Aufmerksamkeit haftet nicht auf dem Knochen, sondern wandert weiter zur Hand und von dort zur Werferin oder zum Werfer. Ich schenke mir Zeit zum tief durchatmen. Ich frage mich: Was fühle ich und denke ich? Welche Bedürfnisse hat die andere Person, was sind ihre Wünsche? Erst dann reagiere ich. Noch habe ich die Wahl und könnte auf der gleichen, vorwurfsgeleiteten Ebene antworten. Oder ich atme erneut tief durch…und lade mein Gegenüber ein, über Bedürfnisse zu sprechen. Gemeinsam prüfen wir, welche sich bald umsetzen lassen.
Hinter Konflikten stehen unerfüllte Bedürfnisse
Eine wichtige Grundannahme des GFK lautet: Wenn wichtige menschliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben, können leicht Konflikte entstehen. Rosenberg zählte neben körperlichen Bedürfnissen wie Nahrung, Wohnung auch Wertschätzung, Mitgefühl, Zugehörigkeit und Autonomie dazu. Gelingt es uns, die Bedürfnisse der Konfliktparteien herauszuarbeiten und in angemessener Weise zu berücksichtigen, lassen sich Konflikte leichter lösen.
Zurück zur ursprünglichen Einfühlsamkeit
In Erinnerung geblieben sind mir seine Schilderungen aus der Versöhnungsarbeit mit israelischen und palästinensischen Polizisten., aber auch seine Begegnungen mit Anwälten, Regierungsbeamte und Pflegepersonal. Am Beispiel dieser eindrücklichen Erfahrungen zeigte Rosenberg, wie rasch in einer Region, einer Gesellschaft und sogar in Familien eine gefährliche Streitkultur entstehen kann. Mit ihren typischen Varianten von Verunglimpfung , Drohung, Angriff , Verteidigung oder Rückzug. Pointiert hielt Rosenberg fest: Dieses Verhalten ist erlernt. Und kann durch entsprechende Versöhnungsarbeit und Training auch wieder verlernt werden.
Auf sprachliche Feinheiten achten
Für Rosenberg spielt unsere Art zu sprechen eine Schlüsselrolle, um Konflikte zu bewältigen und generell einen einfühlsameren Umgang zu pflegen. Der bewusste Umgang mit der Sprache und das Nachdenken über unserer eigenen Gefühle, hilft uns wieder mit unserem natürlichen und oft verschütteten Einfühlungsvermögen in Kontakt zu treten. Kurz: Es geht um den Abschied von Kritik und Schuldzuweisungen und um die Hinwendung zu Wertschätzung und Mitgefühl.
Rosenberg fasste sein Vier-Schritte-Modell in zwei Sätzen zusammen:
„Wenn a, dann fühle ich mich b, weil ich eigentlich c brauche. Deshalb wünsche ich mir jetzt gerne d.“
Einsatz in der Praxis
Was auf den ersten Blick einfach uns simpel erscheint, ist im Alltag schwierig umzusetzen. Ein grosser Vorteil liegt sicher darin, dass Rosenbergs Modell erstmals zu einer radikalen Verlangsamung der Kommunikation führt. Vieles, was später vielleicht bereut wird, verlässt so gar nicht erst den Sprechapparat. Besonders in einer emotional belasteten Situation ist die Gefahr groß, in alte Muster zurückzufallen und dem anderen Zuschreibungen und (Ab-)Wertungen zuzuwerfen. Andererseits könnte ein striktes Einhalten des Vier-Schritt-Rasters künstlich wirken und vom Gesprächspartner als zusätzliche Provokation verstanden werden.
Nach innen…und nach aussen hören
Erfahrene GFK-Anwenderinnen und Anwender sagten mir wiederholt: „Das Modell wirkt wie ein Kletterseil bei Bergwanderung. Du gehst deinen Weg im Gespräch mit grösserer Ruhe, hoher Selbstreflexion und immer ganz nah an der Felswand.“ Wobei mit Wand das heikle Thema, aber auch der schwierige Seminarteilnehmer gemeint sein kann. Eine Kollegin sagte mir:
„Wenn du dieses friedenstiftende, vom Herzen ausgehende Kommunikationsmodell flexibel einsetzt, bleibst du dir selber treu und gehst authentisch deinen Weg“.
Wer sich für das Vier-Schritt-Modell im Detail interessiert, dem sende ich gerne eine Zusammenfassung als PDF, welche die einzelnen Schritte ausführlich erklärt. Damit die Schritte wirklich in das eigene Repertoire übergehen, empfehle ich an einer Weiterbildung bei einer qualifizierten Trainerin oder Trainer teilzunehmen.
Guten Tag Herr Wüest
Ihr Nachruf fasst sehr gut zusammen, um was es in der GFK geht: zur eigentlichen und urtümlichen Form der Kommunikation zurückzukehren.
Ich arbeite im Pflegebereich und dort finden die Ideen von M. Rosenberg oft dankbare Abnehmer (und hoffentlich Umsetzer). Mit Ihrer Erlaubnis drucke ich Ihren Nachruf und stelle ihn bei einer nächsten Teamsitzung zu Diskussion.
Beste Grüsse aus Graz!
Reinhold M.
Danke für Ihre Nachricht! Im Gesundheitsbereich sind Mitarbeitende wiederholt mit Ausnahmesituationen konfrontiert.
Ich habe grossen Respekt, wenn Sie in Ihrem Umfeld vermehrt mit achtsamer, auf Verständigung ausgerichteter Kommunikation arbeiten möchten.
Melden Sie sich bei mir, wenn Ich Ihnen das im Post erwähnte Pdf mit den vier Schritten senden soll. Für Ihre Mitarbeitenden könnte dies eine sinnvolle Handreichung sein.
Freundliche Grüsse Richtung Graz, Ihr Yvo Wüest
Natürlich erspart dieser Beitrag nicht die Lektüre des Buches von Marshall Rosenberg. Doch ich habe selber Trainings in GFK hier in Hamburg absolviert und Sie kommen rasch auf den Punkt, was die wichtigsten Überlegungen sind. Vielen Dank für diesen Text:
Vielleicht fehlt für mich noch der Gedanke: „Tue nichts, was du nicht aus spielerischer Freude heraus tust“ – ein Leitsatz des Psychologen und Konfliktmediators Marshall B. Rosenberg, den ich hier aus unseren Trainings für mich mitgenommen habe. Ich glaube unsere Trainer fügte noch an: Tag für Tag.
Damals bin ich mir bewusst geworden: Statt dessen tun wir oft genau das Gegenteil. Wir handeln vielleicht aus Verpflichtung und Schuld, oder ausScham und Angst. Gefühle der Unzulänglichkeit stehen uns im Wege, fördern die Entwicklung von Unzufriedenheit und Depressionen.
Wie das anders werden kann, wie wir auch Konflikte und andere schwierige Situationen mit Freude meistern können, zeigte Rosenberg in seinen Büchern und in seinen Trainings auf.
Im ersten Teil ging es ihm ja darum, dass wir uns selbst offen(er) ausdrücken, dass wir beispielsweise Gefühle und Bedürfnisse klarer äußern oder dass wir bitten lernen, ohne uns zu verbiegen – aber auch: ohne dass wir beginnen, andere Menschen unter Druck zu setzen.
Der zweite Teil der GFK besteht nach Rosenberg in der Entwicklung von Empathie: andere Menschen aufnehmen ohne zu werten oder sie zu beurteilen. Dies bedeutet auch: Die Welt durch die Augen der anderen sehen, darauf hören, was diese fühlen, brauchen und von uns erbitten.
Die zentrale und vielleicht schwierigste Aufgabe besteht jedoch darin, Funkkontakt, oder genauer: Empathie mit uns selbst aufzunehmen. Rosenberg regt dazu an, uns selbst nicht länger als unvollkommene Objekte zu betrachten, sondern nach den lebensfördernden Motiven, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu suchen, die hinter allem unserem Tun stehen – auch und gerade da, wo wir Fehler machen oder scheitern. Uns nicht länger vorzuhalten, was wir eigentlich sein oder tun „sollten“;, sondern an die Stelle von Ansprüchen, Pflichten und Zwängen freudiges und freies Wollen in Einklang mit unseren Bedürfnissen zu setzen.
Wir könnten zusammenfassen: Selbstvergebung ist der Kern einer gewaltfreien Lebenspraxis. Wie schwer das im einzelnen auch sein mag: Rosenberg zeigt mit einfachen Worten und klar strukturierten Gedanken, dass es Freude macht und das Leben bereichert, wenn man sich auf diesen Weg begibt.
Ganz klar: Für mich ist das von Ihnen erwähnte Buch eines der besten Bücher zum Thema Kommunikation überhaupt. Warum? Es regt zu einer vertieften Selbsterkenntnis an und kann sich damit praktisch in allen Lebensbereichen als hilfreich erweisen.
Ihnen alles Gute, Herr Wüest und ich merke mir Ihren Blog!
MfG Rainer Drömer
Hi Yvo
Thanks for this intelligent and compassionate nekrology! Years ago I read the first book of Marshall Rosenberg, where he explains in the introduction section, that he has two questions that have motivated him to find the answers to.
1. „What happens to disconnect us from our compassionate nature, leading us to behave violently and exploitatively?
2. And conversely, what allows some people to stay connected to their compassionate nature under even the most trying circumstances?“
If you meditate about you might find out that hese questions are truly profound. MR does an exceptional job of answering both of them in his book.
He notes that the first component of Nonviolent Communication is to observe without evaluating. In other words, apply empathy when communicating. This is easier said than done and takes time, patience and a willingness to change ones behavior. There will be mistakes along the way, sure, but eventually change does come with the right attitude.
The second component is to express our feelings. It encourages conscious responses bases on awareness of what we are perceiving, feeling and wanting rather than being habitual and auto responding without thinking. In other words, Rosenberg recommends critically thinking through what to say before saying it. Words are weapons and they need to be handled skillfully or they will be harmful!
There are many insightful comments throughout the book. For example, Rosenberg says: „It is the rare human being who can maintain focus on our needs when we are expressing them through images of their wrongness.“
This book and other excellent books on communication help us understand each others needs better. With a little shift in our thinking we can be better communicators!
Go your way with your smart postings on your blog
Agatha
Dear Agatha
Thanks for your inspiring comment! I appreciate your thoughts about improving our communication. To observe without valuating. To express our feelings and to try to unterstand better each other needs, would be helpful. Instead of what you call „jumping into auto-responding without thinking“…
Best regards, Yvo